“Warum hast Du schon aufgehört?”, fragte mich meine Oma nachdem ich ins Ziel gelaufen war. Nach meinem Marathon-Test vor einer Woche beim Naturmarathon in Marienwerder haben sich die 10 Kilometer im Berliner Birkenwäldchen leicht und locker angefühlt. So wie ein kleiner Sprint. Nach Adlershof war auch meine Oma mitgekommen, weil wir mit der Familie anschließend einen Geburtstag feiern wollten. Da war für mich klar, dass ich meiner Oma zeige, wie viel Freude ich am Laufen habe. Immerhin wird sie dieses Jahr 90 Jahre alt. Deshalb ist meine Laune besonders gut, wenn sie bei einem Lauf dabei sein kann. Und meine Euphorie hat sich ganz eindeutig in Leistung umgesetzt.
Ich war sehr verwundert, dass mein Trainer mich nach der ersten großen Runde abbremsen wollte. Ich war doch ganz locker unterwegs! Zwar hatte ich mir nach den ersten vier Kilometern wohl schon einen Vorsprung von ca 300 Metern erlaufen, nachdem ich nach 500 Metern an die Spitze gegangen war, aber ich habe einfach nur meinen Rhythmus gesucht. Nach hinten habe ich mich gar nicht umgeschaut. Wenn ich einen Wettkampf in Angriff nehme, dann bin ich niemand, der bummelt. Ich muss mich ja schon im Training zurückhalten. Zumindest habe ich gelernt, dass es keinen Sinn macht, im Training zu glänzen und neue Rekorde aufzustellen. Nach der zweiten Runde schaute mir mein Trainer erneut verwundert entgegen. Ich wusste nicht wie ich das deuten sollte. Ich wusste, dass ich nicht vorhatte in der letzten Runde langsamer zu werden. Meine Oma hörte ich mir am Streckenrand zujubeln, aber im nächsten Augenblick war ich schon wieder zwischen den Birken verschwunden. Im letzten Jahr lag an der selben Stelle eine dicke Schneeschicht, die das Laufen sehr erschwert hatte. Die Bedingungen in diesem Jahr waren da deutlich besser. Ja, sie waren mit 8 Grad, Windstille, bewölktem Himmel und ohne Niederschlag nahezu optimal. An die Wurzeln musste ich mich etwas gewöhnen. Aber diese gewisse Spannung, auf den Weg achten zu müssen, empfand als nette Abwechslung. Nach einigen Haken, bedingt durch die Überholmanöver der etwas ruhiger laufenden Sportverrückten, lag auch schon die letzte Kurve vor mir. Mein Trainer rief mir zu: “30:05!” Die letzten Meter bis ins Ziel setzte ich nochmal zu einem kleinen Endspurt an. Die Zeitnahme hörte ich rufen: “30:49!”
Diese Zeit registrierte ich aber nur am Rande. Zunächst dachte ich an meine Oma. Ich ging zu ihr. Sie schaute mich sorgenvoll an: “Warum hast Du schon aufgehört? Die anderen Laufen doch noch! Geht es Dir nicht gut?” 30:49 — 30 Minuten und 49 Sekunden. Eine Zeit, mit der ich nie gerechnet hätte. Ich hatte einfach eine Menge Spaß gehabt und die Zeit statt dabei nicht im Vordergrund. Ich erklärte ihr, dass ich schon fertig sei und das Rennen gewonnen habe. “Aber die anderen laufen doch noch? Wo ist denn der Zweitplatzierte?” So verging eine Weile, bis ich ihr versichern konnte, dass alles in Ordnung sei und ich heute besonders schnell unterwegs gewesen war — wegen ihr! Nicht verschweigen möchte ich, dass auch meine Freundin im Rennen war. Manch einer sprach sogar von unerlaubten Doping. Ich hoffe nun, dass ich keine Grundsatzdiskussion angestoßen habe, ob ein Austauschen von Küssen während des laufenden Wettbewerbs zwischen zwei Teilnehmern zur Disqualifikation führen könne. Dieser Aspekt wird aber wohl theoretischer Art bleiben, da die Strecke wohl genau vermessen ist, aber kein gültiges Protokoll vom Deutschen Leichtathletik-Verband besitzt und somit meine Leistung keinen Eingang in die geführten Bestenlisten finden wird. Viel wichtiger ist für mich aber, dass die Freude bleibt und mir keiner nehmen kann. Ich bin mir sicher, dass ich diese Zeit dieses Jahr auch noch bestätigen werde. Wenn meine Oma mit dabei sein wird, mache ich mir da überhaupt keine Sorgen!