Es war der wichtigste Tag des Jahres für mich als Langstreckenläufer. Zum dritten Mal in Folge stand ich bei den Deutschen Marathon-Meisterschaften am Start. Bis zuletzt war ich etwas erstaunt, dass kaum Spannung aufkam. Ich war ungewöhnlich locker und zuversichtlich. Das war aber auch kaum verwunderlich. Der Austragungsort München war mir aus den letzten beiden Jahren wohl bekannt. Ich war mir sicher, dass es mir besser als Im Oktober 2013 ergehen würde, wo ich nach 28 km mit Magenproblemen aussteigen musste. Und ich war mir sicher, meine Bestzeit (2:26:42h) aus dem Jahr 2012 zu verbessern. Hinzu kam auch, dass die Tatsache, an der Startlinie zu stehen, alleine schon ein kleiner Erfolg war. Nach einer intensiven Vorbereitung, die in Oberstdorf im Allgäu, wo ich im Waldhotel perfekt versorgt war, wie geplant verlief, konnte mein Körper vier Tage vor dem Rennen eine Erkältung nicht mehr abhalten. Das Training war zwar abgeschlossen, aber es war bis 24 Stunden vor dem Startschuss unklar, ob ich rechtzeitig wieder soweit gesund werden würde, um einen Marathon durchzustehen. Erst jetzt in meiner Saisonpause, einige Wochen danach, schreibe ich meine Eindrücke nieder und stelle fest, wie aufregend das Rennen war, was ich dazu gelernt und für einen weiteren Schritt nach vorne gemacht habe.
Eine halbe Stunde vor dem Start streifte ich mein vorbereitetes Trikot mit der Startnummer 68 über. Jetzt kam sie doch die Wettkampfaufregung. Das besondere Kribbeln im Bauch, die Anspannung in der Muskulatur und die Nervosität im Kopf. “Wie wird sich das Rennen entwickeln? Bin ich noch angeschlagen oder kann ich mit um eine Medaille kämpfen?”, fragte ich mich. Selbstvertrauen hatte ich mit dem Deutschen Meistertitel über 50km im Frühjahr und den Wettkämpfen über das ganze Jahr hinweg ausreichend getankt. Doch jedes Rennen ist anders und alle wollen aufs Treppchen. Ich freute mich auf die Strecke und nahm mir vor ruhig anzugehen. Ich konnte ohne Probleme aus der ersten Reihe starten und reihte mich hinter Tobias Schreindl und einem Russen ein, der nicht an der Meisterschaftswertung teilnahm. Nach dem ersten Kilometer forcierten die beiden allerdings das Tempo. Ich lief nun in der Verfolgergruppe zusammen mit Tobias Gröbl, Tobias Sauter, Daniel Ybekal, Benedikt Hoffman, Holger Freudenberger, Dominik Fabianowski und Christian Schmitz. Der Abstand auf die beiden Führenden wuchs immer weiter. Die Fünf-Kilometer-Marke passierten wir nach 16:53 Minuten. Ich fühlte mich viel besser als vor einem Jahr und nahm zuversichtlich die erste Flasche von meinem Trainer entgegen. Es rollte. Es machte Spaß. Das Tempo war nicht hoch und für mich genau richtig. Immer wieder ging mal jemand anderes nach vorne. Die meiste Führungsarbeitet leistete aber Tobias Sauter, der sich mit einem Comeback zurück in der deutschen Marathonspitze zeigen wollte. Obwohl es im Englischen Garten leicht bergab ging, wurde unsere Gruppe zu meiner Verwunderung eher langsamer als schneller. Bei Kilometer neun startete Daniel Ybekal einen Antritt. Ich hielt mich weiterhin bei den anderen in der Gruppe auf. Es war noch ein langer Weg. Den nördlichsten Punkt der Strecke bei der 10km-Marke passierten wir nach 33:53 Minuten. Nun ging ich ab und zu auch mal nach vorne. Bis Kilometer 20 änderte sich nicht viel. Die drei Führenden lagen außer Sichtweite. Tobias Schreindl hatte seinen Vorsprung zwischenzeitlich auf über 2 Minuten ausgebaut. War sein Vorsprung uneinholbar oder hatte er sich übernommen? Auf jeden Fall wollte ich das Tempo nicht verbummeln und setzte mich kurz nach der Hälfte der Strecke an die Spitze der Verfolgungsgruppe. Gleichzeitig überholten wir den Russen Vadim Drozdov, der zurückfiel. Nun ging alles relativ schnell: bedingt durch eine Unterführung unter den Bahngleisen wurde ich schneller. Die anschließende Steigung nahm ich recht schwungvoll. Kurz vor der nächsten Verpflegungsstelle sah ich Daniel Ybekal. Bei der Aufnahme seiner Flasche hatte er ein Problem und kehrte sogar ein paar Meter um. Unverhoffter Weise lag ich plötzlich auf Platz zwei. Auch ohne es bewusst zu steuern gab mir diese Entwicklung des Rennens einen Kick und ich wurde schneller. So schnell, dass nur noch ein anderer Läufer dran blieb. Es war Dominik Fabianowski vom ASV Köln. Den nächsten 5-Kilometer-Abschnitt bis zur 25 Kilometer-Marke absolvierten wir in 16:36 Minuten. 1 Stunde und 24 Minuten waren bisher vergangen. Auch die nächsten Kilometer änderte sich die Rennsituation erstmal nicht. Immer ich vorne weg. Dominik in meinem Windschatten hinter her. Die Rennleitung informierte uns, dass wir nun den Abstand auf Tobias Schreindl verringern würden. Das motivierte ungemein. Bei Kilometer 30 hatten wir selbst einen Vorsprung von über einer Minute auf die Gruppe, die ich gesprengt hatte. 16:22 Minuten stoppte ich für die Strecke zwischen Kilometer 25 und 30. Kurze Zeit später aber dann das: ein Zucken im rückwärtigen Oberschenkel, ein leichter Krampf — eine Warnung des Körpers. Ich bekam erst einen Schreck, dann hoffte ich, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung war. Es waren immerhin noch über 10km bis ins Ziel. Ich versuchte, den Schritt kürzer zu ziehen. Doch immer wieder begann die Muskulatur zu krampfen. Es waren wohl die Auswirkungen des Infektes. Noch weitere 5 Kilometer konnte ich das Tempo unter 3:30 Minuten pro Kilometer (17:14 Minuten) halten. Kurz vor Kilometer 35 lief dann Tobias Sauter von hinten auf Dominik und mich auf. Anstelle aber dem Straßenverlauf an einer rechtwinkligen Kreuzung zu folgen, nahm er den direkten Weg über eine Gehweginsel und setzte sich, ohne dass er wirklich an uns vorbeigelaufen war, mit einem kleinen Abstand vor mich. Das ärgerte mich. Nach einer unebenen Kopfsteinpflasterpassage, die kurz danach folgte, verstärkten sich meine Krämpfe. Mein Schritt wurde kürzer. Ich wurde langsamer. Ich versuchte dagegenzuhalten. Dominik war aber stärker und zog an mir vorbei. Das war bitter. Ich musste die Zähne zusammen beißen. Innerhalb von wenigen Minuten war ich von Platz zwei auf Platz vier zurückgefallen. Mir war bewusst, dass ich nun aufpassen musste. Es waren noch rund 6 Kilometer bis ins Olympiastadion und Zeit genug, dass ich weiter Plätze einbüßen würde. Doch ich dachte positiv. Ich wollte meine Bestzeit steigern. Auch wenn ich furchtbar ausgesehen haben muss, war die Unterstützung meiner Freuding, meiner Familie und meines Trainers, der alles vom Rad aus verfolgte nun unglaublich wichtig. Bei Kilometer 38 dann die Nachricht von einem Kampfrichter: „Du liegst derzeit auf Platz 3!“ Ich konnte es nicht glauben. Was war geschehen? Tobias Sauter hatte aus irgendwelchen Gründen, die ich bis heute nicht genau weiß, die aber etwas mit Abkürzen der Strecke und mit dem Überholvorgang, an dem Dominik und ich beteilgt gewesen waren, zu tun haben, die rote Karte gesehen und war damit disqualifiziert worden. Meine Qualen schienen nun plötzlich etwas erträglicher zu sein. Meinem Empfinden nach konnte ich mit der Bronzemedaille, die nun wirklich zum Greifen war, bis Kilometer 40 etwas mehr Druck machen. Ich befand mich nun mitten in meinem persönlichen Marathon-Krimi. Das Stadion war noch nicht in Sicht. Es war aber nicht mehr weit. Doch ich wurde gejagd. Die Nachricht der Diqualifikation hatte sich wohl herumgesprochen. Zuerst kamen Holger Freudenberger und direkt dahinter Daniel Ybekal von hinten angeflogen. Ich hatte nichts dagegenzusetzen. Die Medaille war nun wirklich futsch. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, noch eine versteckte Rakete zu zünden. Mein letzter Gedanke war nur noch die neue Bestzeit. Zu meiner Überraschung hatten bei Kilometer 41 die Kinder meines Trainers mit Kreide eine Aufmunterung auf den Asphalt gemalt. Der richtige Punkt, um meinen bescheidenen Endspurt zu starten.
Nach 2 Stunden und 24 Minuten lief ich durch das Marathontor. Nach 2 Stunden 25 Minuten und 14 Sekunden hatte ich die Ziellinie erreicht: neue Bestzeit. Ich war erleichtert, erschöpft und konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Nicht weit vom Sieger Tobias Schreindl entfernt fiel ich zu Boden. Auch Dominik, Holger und Daniel mussten sich von dem Marathon erstmal erholen. Ich kroch an die Bande und zog mein nasses Trikot aus. Ich kann euch sagen: ein wirklich besonderer Moment, wenn man direkt nach dem Marathon mitten im riesigen Olympiastadion auf dem Boden hockt und den Sonnenschein auf der nackten Haut genießen kann. Ich war ganz in mir versunken, fühlte eine gewisse Leichtigkeit in mir, obwohl ich kaum Kraft hatte, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Es war wie beim Abspann nach einem ergreifenden Film im Kino. Man ist noch ganz gefesselt, in einer anderen Welt und doch ist einem bewusst, dass es zu Ende ist. Doch im Unterschied zum Kino-Thriller war ich bei meinem Marathon-Krimi nicht nur Zuschauer gewesen. Ich war einer der Hauptdarsteller und bei den gefährlichen Actionszenen wurde ich nicht durch ein Double ersetzt. Es war alles ganz real und dafür war ich dankbar. Dankbar für die Unterstützung meines Teams. Für die Aufopferung meines Trainers. Für die Liebe meiner Freundin und für die Bestärkung durch meine Familie und Freunde. Das alles, zusammen mit der Hilfe meiner Sponsoren, hat dazu geführt, dass ich trotz Fragezeichen am Start, das Ziel am entscheidenen Tag erreichen konnte. Die München Triologie ist damit abgeschlossen. Ich bin gespannt wo mein Weg als Marathonläufer seine Fortsetzung finden wird. Auf jeden Fall freue ich mich darauf. Ein Kreis hat sich in München geschlossen. Allein schon meine Leidenschaft, die in mir beim Laufen aufkommt, ist die intensive Vorbereitung wert und es hat sich in meinem Empfinden wieder bewahrheitet, dass der Sieg einer Medaille für mich nicht die Voraussetzung dafür sein muss, dass ich glücklich bin.