“Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, die kann man niemals schaffen, denkt man.” So beschreibt Michael Ende in seinem Buch “Momo” eine Situation, in der ein Mensch sich überfordert fühlt, weil er vor einer so großen Herausforderung steht, dass er sie kaum bewältigen kann. Für viele wäre ein Marathonlauf eine solche unvorstellbare Aufgabe. Für manche sind auch schon 10 Kilometer eine nicht zu enden scheinende Distanz. Gerade bei einer Temperatur im Schatten von rund 35 Grad. Das war der Fall beim Run of Spirit am Pfingstmontag. Bei diesem besonderen Laufevent, das ich wieder zusammen mit meinem Trainer Volkmar Scholz und dem Evangelischen Johannesstift auf die Beine stellte, geht es gerade darum, sich einer Herausforderung zu stellen. Aber einer Herausforderung, die man bewältigen kann und an der man nicht zerbricht. Der Run of Spirit verkörpert die Idee von der sportlichen Herausforderung, die man gemeinsam unabhängig von individuellen Voraussetzungen bzw. möglicher Einschränkungen mit vielen anderen bewältigt und dabei Gutes für sich und andere tut, indem ein Charity-Projekt unterstützt wird, und der Freude, die man verspürt und die einen beflügelt, wenn man das Ziel vor Augen hat.
Gerade beim Run of Spirit trifft man auf Menschen, die aus meiner Sicht sehr, sehr lange Straßen vor sich gehabt haben, die so was von schrecklich lang sind. Einer davon ist Henry Wanyoike, den ich zusammen mit seinem Guide Joseph Kibunja vom Flughafen abholen durfte. Auf der Hinfahrt kam mir “seine Geschichte” wieder in Erinnerung. Anfang 20 war er über Nacht erblindet und alles war schwarz, obwohl die Sonne schien. Kannst Du dir vorstellen, wie lang seine Straße gewesen sein musste, die ihm bevor stand? Vielleicht befand er sich auch eher in einem tiefen Loch. Auf jeden Fall begann er, motiviert von seinem Traum ein großer Läufer zu werden, von seinem Glauben zu Gott und an sich selbst, seinen Weg fortzusetzen. Auch ich habe schon Momente durchlebt, in denen ich nicht wusste, wie lange der Weg sein würde und in denen ich überhaupt erstmal einen Weg finden musste. Auf jeden Fall hängt es vor allem von der Betrachtungsweise ab als wie lange man die bevorstehende Straße beurteilt, die man zu gehen hat.
Viele werden die Situation kennen, dass man sich besonders zu beeilen versucht, wenn man eine lange Wegstrecke vor sich hat. So erhofft man sich ein schnelleres Ankommen. Das ist im Alltag gerade in einer Millionstadt wie Berlin beispielhaft zu beobachten. So verfallen die Leute in Hektik. Michael Ende findet für dieses Phänomen folgende Worte: “Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz aus der Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem.” So gerät man in einen Teufelskreislauf. Man man kommt nicht von der Stelle, obwohl man sich völlig verausgabt. Im wirklichen Leben ist es etwas komplizierter. Aber beim Run of Spirit kann man sich als Unerfahrener erproben. Wer die Geschwindigkeit zu Beginn des Laufes zu hoch gestaltet, wird schnell merken, dass er das Tempo nicht halten kann. Er wird sogar deutlich langsamer werden, als jemand, der ein gleichmäßiges, wenn auch ruhigeres, Tempo wählt und das Ziel mit viel größerer Anstregung erreichen. Auch wenn das so simpel klingen mag, es ist eine hohe Kunst, seine Kräfte richtig einzuschätzen und sich seine Energie Schritt für Schritt einzuteilen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man einen Kilometer, 10 Kilometer oder einen Marathon bewältigen möchte. Besonders für Menschen, die mit ganz individuellen Voraussetzungen, geprägt von geminderter Sehstärke, geringerem Höhrvermögen, psychischen oder anderen physischen Erschwernissen an den Start gehen, ist der Run of Spirit ein Höhepunkt, den sie oft ein ganzes Jahr lang entgegenfiebern. Wenn dann der Startschuss fällt, sieht man ihre Augen voller Motivation und Eifer leuchten. Die sportliche Aktivität — und das ist unabhängig davon, ob sie sich in einem Rollstuhl oder mit einem anderen Fortbewegungsmittel in Richtung Ziel aufmachen — lässt sie über das ganze Gesicht zu strahlen beginnen. Natürlich erfordert das Vorwärtskommen viel Konzentration, Kraft und Ausdauer und dazu ist es auch gerade bei dem hochsommerlichen Wetter eine schweißtreibende Angelegenheit. Doch die Freude überwiegt und kennt keine Grenzen. Das ist ansteckend. Keiner wird beim Run of Spirit im Evangelischen Johannesstift ausgeschlossen. Ein jeder ist willkommen und wird zum Mitmachen aufgefordert. Somit war für mich der barrierearme Lauf auch in diesem Jahr wieder ein besonderer Moment. Das daraus resultierende Gefühl nahm ich später mit auf meinen persönlichen Run of Spirit. Ich vergaß beim Laufen jeden Maßstab, an dem ich mich sonst messen würde. Ich hörte auf meinen Körper und konzentrierte mich auf mich selbst, um für jeden einzelnen Schritt so viel Kraft einzusetzen, dass ich mich wohl fühlte und Freude empfinden konnte. So setzte ich selber das Feuer, das ich zuvor bei den anderen beobachtet hatte, selbst fort. Ich trug es über die Strecke und gab es weiter. Auf diese Weise empfand ich die 10000 Meter Schritt für Schritt, obwohl es 35 Grad waren, als Geschenk und Kostbarkeit. Es war keine Qual und keine schrecklich lange Straße ohne Ende. Es stimmte einfach alles und jeder Schritt war gefüllt mit Freude. So sollte es immer sein. Und so lerne ich vom Run of Spirit, wie eine große Herausforderung auch ein Geschenk Gottes sein kann.
So denke ich überaus gerne an diesen Tag zurück und danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern von fern und nah, dass sie mitgemacht haben und einen Anteil daran hatten, dass der Run of Spirit auch in diesem Jahr ein großes Lauffest für alle werden konnte, bei dem man etwas für sein Leben lernen und den Alltag mitnehmen kann.
So ende ich wie ich begonnen habe mit den Worten aus der Geschichte “Momo”. “Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug. Und immer nur den nächsten. … Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.